Mehr Handlungsoptionen erhalte man nur, wenn man nicht nur auf nackte Zahlen starre, sagt Hans-Peter Hutter im MARI€-Interview.
"Dr. Hutter, in vielen Ländern wird mit Lockdowns versucht, die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen. Neben den wirtschaftlichen Folgen haben Lockdowns aber auch gravierende soziale und gesundheitliche Auswirkungen. Was ist nach einem Jahr Pandemie darüber bekannt?"
Hans-Peter Hutter:
Psychische Belastungen wurden seit Beginn der Pandemie thematisiert. Speziell Kinder und Jugendliche sind gefährdet, weil sie einem erhöhten Risiko häuslicher Gewalt ausgesetzt sein können und bei ihnen die Kontaktreduktion in einer sensitiven Entwicklungsphase problematisch ist. Nicht zuletzt ist die Zahl von Kindern und Jugendlichen deutlich angestiegen, die wegen depressiven Episoden oder Essstörungen in Behandlung sind. Und das ist sicher nur die Spitze des Eisberges. Klarerweise ist auch bei den Erwachsenen ein großer Leidensdruck feststellbar, etwa aufgrund materieller Verluste von Unternehmen und Beschäftigten oder durch andere berufliche Belastungssituationen, zum Teil noch verstärkt durch private Herausforderungen wie etwa Homeschooling. Im Detail werden etliche gesundheitliche Folgen erst langfristig sichtbar werden, im Moment haben wir vorerst plausible Annahmen. Ein Blick auf das Jahr 2020 zeigt etwa, dass wir 6.312 Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 hatten, aber eine Übersterblichkeit von rund 7.300 Fällen. Es also eine nicht coronabedingte Übersterblichkeit gibt. Hier können wir im Moment nur Mutmaßungen anstellen, weil die detaillierten Angaben noch fehlen.
"Welche Gruppen leiden besonders unter den Lockdowns?"
Die Folgen sind sehr ungerecht aufgeteilt. Neben der Gruppe von Kindern und Jugendlichen treffen die Lockdowns vor allem jene besonders hart, die aufgrund ihrer Ausbildung oder ihrer beruflichen Tätigkeit nur wenige Handlungsoptionen haben. Mich rufen oft kleine Einzelunternehmer an und fragen, wie sie Präventionsmaßnahmen umsetzen können. Für sie gibt es keine Kurzarbeit, kein Homeoffice. Ihnen geht mit Fortdauer der Lockdowns einfach die Kraft aus. Generell sehen wir, dass während der Lockdowns ungesunde Verhaltensweisen verstärkt auftreten: ungesunde Ernährung, verstärkter Alkohol-, Nikotin- und Suchtmittelabusus sind ebenso zu beobachten wie Bewegungsmangel. Es gibt aber auch Fälle, wo Menschen angeben, durch die neuen Arbeitssituationen weniger gestresst zu sein.
"Was raten Sie, um Kollateralschäden zu vermeiden?"
Es ist nun sicher an der Zeit, die mit den Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang stehenden Gesundheitsfolgen und deren Bewältigung deutlich stärker in den Fokus zu rücken. Das bedeutet selbstverständlich nicht, die Epidemie aus den Augen zu verlieren, sondern eben nächste Öffnungsschritte unter strengen Begleitmaßnahmen - Stichwort "Sicherheitskonzepte". Dringend erforderlich ist etwa eine Öffnung des Vereinssports, insbesondere für Kinder und Jugendliche.
Flächendeckende Tests sind ein wirksames Mittel, um zu einem "normaleren" Leben zurückzukehren.
Aus unserer Sicht ist anzunehmen, dass ehestbaldige Lockerungen stark mithelfen, die Zufriedenheit in der Bevölkerung zu steigern und damit die Bereitwilligkeit für die Einhaltung von den elementaren Maßnahmen wie der AHA-Regel aufrechtzuerhalten.
"Seit ein paar Wochen setzt Österreich neben Impfungen auf regelmäßiges und breitflächiges Testen, auch als Zutrittstests für körpernahe Dienstleister wie etwa Friseure. Was halten Sie von dieser Strategie?"
Diese Tests ermöglichen es, den epidemiologischen Herausforderungen mit mehr Bewegungsfreiheit zu begegnen. Das Testen allgemein hat durch die Zutrittstests einen großen Auftrieb erhalten; das hilft uns, unser Sozialleben wiederzubekommen. Insofern sind die Tests ein wirksames Werkzeug, um zu einem "normaleren" Leben zurückzukehren.
"Durch die massive Ausweitung der Tests können mehr asymptomatische Corona-Infektionen erkannt werden. Wie beurteilen Sie die aktuelle Entwicklung der positiven Tests?"
Seit ein paar Wochen wird deutlich mehr getestet. Das wirkt sich natürlich auch in den detektierten Fällen aus. Laut unserer Analysen, die auf den öffentlich zugänglichen Daten basieren, sehen wir, dass der Anstieg der Inzidenz eher ein Artefakt ist, der auf die angestiegene Testzahl zurückzuführen ist. In einer Pandemie kann man sowieso nicht einfach nur auf ein paar nackte Zahlen starren, sondern muss dies in einem breiteren Kontext betrachten; die 7-Tages-Inzidenz greift hier zu kurz. Man muss einbeziehen, wie viel getestet wird, wie die Lage bei den Hospitalisierten, den Intensivpatienten und den Todesfällen ist. Die allgemeine Infektionslage ist genau zu analysieren und zu differenzieren, etwa ob es sich um gut eingrenzbare Cluster oder diffuse Infektionen handelt und wie diese regional verteilt sind. Nur so erhält man ein umfassendes Bild über die Lage und damit mehr Handlungsoptionen, um differenziert wirksame Maßnahmen zu setzen. Zusätzlich gilt es jetzt jedoch, auch die negativen Gesundheitsfolgen der Maßnahmen mit in diese Betrachtung miteinzubeziehen. Ein Hausarzt nimmt ja auch nicht nur einzelne Laborwerte, um den Gesundheitszustand eines Patienten zu beurteilen.
"Die Wirtschaft setzt auf umfassende Präventionskonzepte, breitflächiges betriebliches Testen und FFP2-Masken, um Öffnungen weiterer Branchen zu ermöglichen. Wie kann aus Ihrer Sicht eine sichere Öffnung gelingen?"
Das gelingt, wenn Folgendes erfüllt wird: Erstens braucht es das Commitment von den Veranstaltern, Gastronomen und weiteren Betroffenen, dass sie fundierte eigene Präventivkonzepte nicht nur vorlegen - was ja bereits in vielen Fällen geschehen ist -, sondern diese auch konsequent umsetzen. Und weiters muss die Bevölkerung "mitspielen" und sich auch entsprechend verhalten. Wenn man zum Beispiel die Gastronomie öffnet, kann man sicher nicht die gesamte Verantwortung auf die Wirte abwälzen. Diese können ja nicht wie KindergartenpädagogInnen jedem einzelnen Gast nachlaufen und ständig darauf achten, dass die Regeln bis ins kleinste Detail eingehalten werden, sondern nur die geeigneten Rahmenbedingungen schaffen und diese verantwortungsbewusst umsetzen. Es braucht auch die Eigenverantwortung der Gäste. Aber wenn alle zusammenarbeiten, wird das gelingen.
"Sie haben die Corona-Pandemie in einem Interview einmal als „Warnung“ bezeichnet. Welche Lehren müssen wir für die Zukunft ziehen?"
Wir müssen sehen, dass die großen Krisen unserer Zeit die gleichen Ursachen haben – die Klimakrise, die Biodiversitätskrise und Pandemien. Massive und unüberlegte Eingriffe in Ökosysteme, Raubbau in enormem Ausmaß – schädigen das Klima. Dabei werden zudem die Lebensräume von vielen Spezies zerstört, was die Biodiversität gefährdet. Und je weiter man in bisher unberührte Lebensräume eindringt, desto öfter wird man auf Vektoren noch unbekannter Organismen mit Krankheitspotenzial für Menschen treffen. Daher ist es nicht unwahrscheinlich, dass wir solche Pandemien künftig in kürzeren Zeitabständen erleben werden. Ich habe aber einen frommen Wunsch: Dass wir nach der Pandemie nicht einfach so weitermachen wie zuvor. Denn mit einem Überdenken unseres Verhaltens und entsprechend entschlossenen Maßnahmen könnten wir vielen Krisen zugleich wirksam begegnen.