"Wir können den Wald sehen, nicht nur die Bäume"

Warum Menschen bessere Entscheidungen treffen als Computer.


Wer diesen Beitrag lesen sollte:

  • Weiterdenker:innen
  • Game Changer:innen

Lesedauer:

5 Minuten

AutorIn: Florian Streb

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Viktor Mayer-Schönberger

In seinem neuen Buch erklärt Big-Data-Experte Viktor Mayer-Schönberger, was Menschen Computern voraus haben. Was Politik und Unternehmen daraus lernen können, analysiert er im MARI€-Interview.

"Dieser Tage erscheint Ihr Buch "Framers: Wie wir bessere Entscheidungen treffen und warum uns Maschinen um diese Stärke immer beneiden werden". Wie kommt es dazu, dass Sie sich als Professor für Internet Governance mit einem Thema befassen, das mit Regulatorik – zumindest auf den ersten Blick – nichts zu tun hat?"

Viktor Mayer-Schönberger:
Das Buch versucht die Frage zu beantworten, was wir tun können, um auf die Herausforderungen von Pandemie, postindustrieller Wirtschaft, Polarisierung, Einkommensscheren, Klimakrise et cetera Antworten zu finden. Da sagen die einen: Wir sollten aufs Bauchgefühl hören, und die anderen wollen, dass wir uns auf Algorithmen verlassen. Meine Ko-Autoren und ich argumentieren, dass beide Wege falsch sind, der emotionale und der maschinenintelligente. Stattdessen können wir durch Framing, eine kognitive Superkraft des Menschen, bessere Entscheidungsoptionen finden. Insofern ist das schon eine große gesellschaftliche und politische Frage und passt zu meiner Arbeit.

 

Können Sie versuchen, ganz kurz zu erklären, was wir besser können als Computer und was "Framing" eigentlich ist?

Wenn wir vor einer Entscheidung stehen, überlegen wir: Was wäre, wenn wir dieses oder jenes machen würden. In unserem Kopf läuft ein Film ab – wir stellen uns vor, was passieren würde. Das ist Framing. Dieses Durchspielen unterschiedlicher Entscheidungsoptionen, das können Maschinen nicht. Sie können gut rechnen, algorithmische Schritte ausführen. Aber wenn ein Computer vor einem Entscheidungsraum steht, der sehr groß ist, kann er nur alles durchprobieren – und das dauert zu lange. Ein Mensch analysiert nicht Millionen Optionen, sondern sucht sich durch Framing geschickt mehrere besonders vielversprechende Szenarien aus. Für uns ist deshalb ein großer Entscheidungsraum viel besser beherrschbar. Framing bedarf auch keines Universitätsstudiums, das können wir alle, vom kleinen Kind bis zum Greis.

Viktor Mayer-Schönberger: Keynote am eDay21

Ist das in Stein gemeißelt, dass Computer nicht framen können oder ist das eine Momentaufnahme?

Alles ist eine Momentaufnahme. Aber es ist schwer vorzustellen, dass sie es auf absehbare Zeit können.

 

Sie argumentieren, dass man einem Computer einen bestimmten Frame, einen Rahmen vorgeben muss, um daraus etwas zu machen. Aber den braucht er nur einmalig. Reduziert das die Menge an benötigtem menschlichen Framing nicht massiv?

Nein, das ist ein Denkfehler. Das gilt nämlich nur für exakt die gleiche Situation. In einer etwas anderen Situation muss der Computer von vorne anfangen. Wir nicht. Wir abstrahieren. Wir können den Wald sehen, nicht nur die Bäume. Viele sagen: Schachcomputer wie Deep Mind haben eine neue, eigene Strategie entwickelt. Aber das haben sie gar nicht – sondern sie haben nur Muster gefunden. Erst die menschlichen Schach-Großmeister haben das Muster abstrahiert und gesagt: „Wahnsinn, der spielt ganz anders: Er schützt Positionen viel mehr als Figuren.“ Abstraktion und Generalisierung sind etwas zutiefst Menschliches.

 

Sehen Sie die Gefahr, dass bestimmte Frames zu viel Bedeutung gewinnen, wenn sie die Basis eines Algorithmus bilden? Man hört ja oft: Künstliche Intelligenz denkt wie alte weiße Männer?

Ja, aber diese Gefahr gibt es nicht nur bei Maschinen – auch wir tappen oft in eine ähnliche Falle. Wenn jemand Hammer und Nagel verstanden hat, sieht er viele Nägel, die eingeschlagen werden müssen. Das gleiche Rezept überall anzuwenden, funktioniert wunderbar, solange sich die Situation nicht ändert. Aber wir stehen heute als Gesellschaft vor Problemen, die mit alten Rezepten unlösbar sind. Wir brauchen daher ganz unterschiedliche Perspektiven und Herangehensweisen, auch wenn das zu Reibungen führt. 

 

Was kann man dagegen tun?

Außerhalb der engen Bahnen denken, die gerade in großen Organisationen oft die Vorstellungskraft beschneiden. KMU haben es leichter, sich immer wieder eine Welt außerhalb dieser Schienen vorzustellen – sie sind agiler. Und das müssen sie dann auch tun.

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Framers: Wie wir bessere Entscheidungen treffen und warum uns Maschinen um diese Stärke immer beneiden werden

von Kenneth Cukier, Viktor Mayer-Schönberger und Francis de Véricourt

Erschienen im Verlag Redline.

ISBN 978-3-86881-794-2

Apropos KMU: Sie haben in einem Ihrer vorangegangenen Bücher argumentiert, dass die Monopol- oder Oligopolbildung der großen Internet-Konzerne Innovationen verhindert, weil kleinere Unternehmen keinen Zugang zu ihrem Datenschatz haben. Welche Chancen bleiben da noch für Start-ups und Mittelstand?

Es stimmt, dass die Macht der Datenkraken blockierend ist. Alle Maßstäbe für Innovationskraft und Geschäftsdynamik, die wir haben – Patente, Anzahl der Börsegänge, egal was man anschaut –, zeigen, dass die Wirtschaft, gerade auch im Silicon Valley, heute weniger innovativ ist als in den 90ern. Aber das bedeutet nicht Game over – die Zukunft gehört nach wie vor jenen, die gute Ideen haben und umsetzen. Dabei hilft das Framing.  

 

Was kann die Politik tun, um wieder mehr Innovation zu schaffen?

Wir brauchen bessere Datenzugänglichkeit. Das ist die Ressource, um die es geht. Das Silicon Valley ist nicht entstanden, weil es dort so viel Risikokapital für Start-ups gegeben hat, sondern weil der Staat durchgesetzt hat, dass die große Telefonkrake AT&T die Patente für Transistoren und Laser für alle freigeben musste. Aus dieser Wissenssubvention sind Tausende Start-ups entstanden.

"Die österreichische "Amtsgeheimnis-Mentalität" ist demnach innovationsfeindlich?"

Ja, da hätten wir auf nationaler Ebene viel in der Hand, in dem wir mehr Open Data schaffen und Datenpools oder Daten-Kooperativen fördern. Solange man sie offen zugänglich gestaltet, entsteht kein Wettbewerbsproblem. Die Niederlande, die Schweiz und Großbritannien sind da weiter und schaffen "Regulatory Sandboxes", in denen Unternehmen neue Geschäftsmodelle erproben können, ohne in eine übertriebene Haftungsfalle zu tappen. 

 

Sie haben 2013 eine sehr bald sehr große Rolle von Big Data in der Wirtschaft prognostiziert. Ist das aus Ihrer Sicht so eingetreten?

Das ist voll eingetreten. Es hat etwas länger gedauert als gedacht, aber es war wohl eine richtige Prognose.

 

Gilt das auch für Österreich?

Wir sehen immer mehr – vor allem mittlere und große – Unternehmen in Österreich, die sich mit Big Data auseinandersetzen, in vielen Branchen. Aber es ist noch ein punktuelles Thema und nicht in der Breite angekommen. Das liegt sicher daran, dass es schwierig klingt, aber auch daran, dass man sich gerade mit anderen Herausforderungen wie der Pandemie beschäftigen muss und gleichzeitig volle Auftragsbücher hat. Langfristiges strategisches Denken steht da im Hintergrund. Aber Vorsicht, sonst endet man wie der Frosch im immer heißer werdenden Wasser, der die Chance zum Sprung verpasst hat.