Was braucht es für eine zukunftsfitte Gesundheitsversorgung? MARI€ spricht mit zwei BOLD Minds über KI, Prävention, Gender Gaps – und was Österreich von Australien, Finnland und Co. lernen kann.
Gesundheit neu denken: Im Rahmen der BOLD UnConference 2024 arbeiteten internationale Innovationsköpfe mit österreichischen Unternehmen an konkreten Lösungen für zentrale Herausforderungen Österreichs.
Beim Schwerpunkt Gesundheit wurden drei große Hebel identifiziert:
- besserer Zugang zu Gesundheitsdaten
- der Aufbau digitaler Plattformen für präventive Versorgung sowie
- KI-gestützte Diagnostikzentren.
Was ist die BOLD Community?
Die BOLD Community ist die globale Innovationsinitiative der Wirtschaftskammer Österreich und AUSSENWIRTSCHAFT AUSTRIA. Ziel ist es, Vordenker:innen aus aller Welt mit österreichischen Unternehmen zu vernetzen und gemeinsam an Lösungen für die Wirtschaft von morgen zu arbeiten. Die jährlich stattfindende BOLD UnConference bringt dafür internationale BOLD Minds mit heimischen Unternehmen in vier Bundesländern zusammen.
Doch was bedeuten diese Ansätze in der Praxis?
Und wo steht Österreich im internationalen Vergleich? Wir haben zwei BOLD Minds zum Gespräch gebeten: Dr. Aura Pyykönen, Gynäkologin, Unternehmerin und medizinische Leiterin an der Aalto-Universität in Finnland, sowie Fredrik Debong, Mitgründer von mySugr und hi.health und ein Pionier der digitalen Gesundheitswirtschaft in Österreich.
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Die Medizin hat über Jahrzehnte hinweg Männer als Standard behandelt
Zugang zu Daten, präventive Gesundheitsplattformen und KI-Diagnostik. Wo sehen Sie die größte Herausforderung?
In der Fragmentierung der Datensysteme. Selbst dort, wo Daten existieren, sind sie oft nicht standardisiert oder zugänglich – besonders für unterrepräsentierte Gruppen wie Frauen.
Sind alle drei Bereiche gleich weit entwickelt?
Nein. KI-Technologien schreiten am schnellsten voran, weil sie kommerziell attraktiv sind. Aber ohne verlässliche Datenbasis und systemische Integration bauen wir Tools auf wackeligem Fundament.
Was braucht es konkret, um Fortschritte zu erzielen?
Plattformen müssen in die klinische Praxis integriert werden. Vertrauen ist zentral – gerade bei Datensicherheit, Bias und Transparenz. Und: Forschung muss diverser werden – in ihren Fragestellungen, ihren Teams und ihren Zielgruppen.
Sie setzen sich stark für Frauengesundheit ein. Warum gibt es bei diesen Themen so oft noch Aufholbedarf?
Weil die Medizin über Jahrzehnte hinweg Männer als Standard behandelt hat. Von der präklinischen Forschung über klinische Studien bis hin zu Diagnosekriterien hat diese geschlechtsspezifische Datenlücke zu schlechteren Ergebnissen für Frauen geführt. Frauengesundheit überschneidet sich zudem mit Stigmatisierung, Tabus und strukturellen Verzerrungen – insbesondere in Bereichen wie Perimenopause, psychische Gesundheit und chronische Schmerzen. Das macht es weniger attraktiv, diese Themen politisch und wirtschaftlich gezielt anzugehen.
Gibt es Länder, die als Vorbild dienen können?
Finnland ist stark bei digitaler Infrastruktur und Bevölkerungsdaten, hinkt aber – wie Österreich – bei frauenspezifischen Daten und präventiven Dienstleistungen für die psychische Gesundheit hinterher. Australien ist hingegen ein echtes Vorbild: Mit seiner National Women's Health Strategy 2020-2030, Finanzierung und klaren Zielen für Gleichstellung in Forschung und Versorgung.
Welche Rolle spielt künstliche Intelligenz – und wo lauern Risiken?
Zunächst: KI sollte menschliches Urteilsvermögen unterstützen – nicht ersetzen. KI hat enormes Potenzial für Diagnostik und personalisierte Versorgung. Aber: Algorithmische Voreingenommenheit ist kein Fehler im System – sie ist ein Spiegel des Systems. Wenn wir die zugrunde liegenden Datenlücken nicht schließen – insbesondere in Bezug auf Geschlecht, Gender, ethnische Zugehörigkeit und sozialen Kontext – wird KI bestehende Ungleichheiten verstärken.
Und wenn wir ins Jahr 2035 blicken – wie sieht eine zukunftsfitte Gesundheitsversorgung aus?
Mehr Fokus auf mentale Gesundheit. Frauenmedizin als Grundpfeiler. Gesundheitsoptimierung statt Krankheitsbehandlung. Und: Konsument:innen-gesteuerte Tools wie Wearables und Zyklustracker werden nahtlos in das medizinische System integriert.

Wir brauchen ein Gesundheitssystem, das neu gedacht ist
Was haben Sie aus Ihren Startup-Erfahrungen mitgenommen?
Geschwindigkeit zählt – doch das Gesundheitswesen bewegt sich oft im Schneckentempo. Wer den richtigen Hebel findet, kann trotzdem Großes bewegen. Und: Es geht letztendlich um Geld – wir "Innovator:innen" vergessen oft und gern der Aspekt von Gesundheitsökonomie.
Wie gelingt wirtschaftlich nachhaltige digitale Gesundheit?
Indem Lösungen in bestehende Strukturen integriert werden. Direkt an Patient:innen zu verkaufen funktioniert selten – mit Unternehmen oder Versicherungen geht es besser. Wichtig ist, dass digitale Produkte nachweislich medizinische Ergebnisse verbessern. Dann sind auch Finanzierungen möglich.
Was müsste passieren, damit Österreich digitaler Gesundheitsvorreiter wird?
Wir agieren oft, als wären wir ein großes Land – dabei liegt unsere Stärke in der Überschaubarkeit. Schnellere Anpassungen, Raum für Experimente, weniger Bürokratie – das wäre alles möglich.
Gibt es internationale Vorbilder?
Alle haben Stärken und Schwächen. Die USA sind innovativ, haben aber massive Versorgungsprobleme. Skandinavien ist digital stark, aber das System steht unter Druck. Deutschland hat mit "DiGA" spannende Ansätze zur Integration digitaler Therapien – aber Umsetzung und Skalierung sind schwierig.
Welche Rolle spielt KI – und welche Herausforderungen gibt es?
Präzisere Diagnostik, effizientere Behandlungen, Entlastung bei Ärztemangel – KI muss längst Standard sein. Systeme wie Xund oder Syntactiq beschleunigen Forschung und Versorgung enorm. Aber: Auch KI erbt unsere systemischen Verzerrungen. Bias steckt in den Daten – und in den Entscheidungen, die unser Gesundheitssystem heute trifft. Der EU AI Act zwingt uns, das endlich anzugehen - aber auf eine Art und Weise, die Innovation verzögern wird.
Wie sieht Ihr Gesundheitssystem 2035 aus?
Noch weniger Ärzte und Ärztinnen pro Patient:in. Stattdessen müssen wir prädiktive Modelle statt reaktiver Medizin einsetzen. Krankheiten werden erkannt, bevor sie entstehen. Digitale Zwillinge simulieren individuelle Gesundheitsszenarien. Therapie und Medikamente werden maßgeschneidert. Alles wird vernetzter, datengetriebener, personalisierter.
Das Wichtigste in Kürze
- Gesundheitsdaten müssen leichter zugänglich, standardisiert und geschlechtergerecht erhoben werden.
- Prävention statt Reaktion: Der Fokus verschiebt sich hin zu ganzheitlicher, digital unterstützter Gesundheitsoptimierung.
- Frauengesundheit ist noch immer unterrepräsentiert – und bietet enormes Innovationspotenzial.
- Künstliche Intelligenz kann Diagnostik und Versorgung verbessern – wenn Bias in den Daten aktiv bekämpft wird.
- Österreich hat Potenzial, ein Vorreiter in der digitalen Gesundheit zu werden – durch mutige Reformen und klare Zuständigkeiten.
- Internationale Vorbilder wie Australien und Deutschland zeigen, wie konkrete Strategien und Finanzierung Innovation fördern können.