Investitionen im Binnenmarkt stärken Wirtschaft und Wohlstand. Die Grundlage dafür sind starke Rechtsstaatlichkeitssysteme, auf die sich Unternehmen in allen EU-Mitgliedstaaten verlassen können müssen.
Die Bürger:innen der EU müssen sich auf ihre Grundrechte verlassen können, so verspricht es das Rechtsstaatsprinzip. Wie sehr die Rechtsstaatlichkeit in den 27 Mitgliedstaaten geachtet wird, beschreibt die Europäische Kommission in ihrem Rechtsstaatlichkeitsbericht 2025, der im Juli zum sechsten Mal in Folge erschienen ist.
Für diesen Bericht hat die Kommission die Rechtsstaatlichkeit quer durch alle EU-Staaten in 4 Bereichen untersucht:
- Justizsystem
- Korruptionsbekämpfung
- Medienpluralismus
- Gewaltenteilung
Wirtschaft als eigenes Kapitel fehlt im EU-Bericht
Der bedeutende Bereich Wirtschaft fehlt jedoch. Zwar wird in den vier Kapiteln des EU-Rechtsstaatlichkeitsberichts auch erstmals auf wirtschaftliche Aspekte eingegangen, doch das greift zu kurz. Wirtschaft geht alle an, ob als Investor:innen, als Arbeitgeber:innen oder als Arbeitnehmer:innen. Eine florierende Wirtschaft braucht einen zuverlässigen rechtlichen Rahmen – und zwar in allen EU-Staaten.
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"Viele Probleme im Bereich des Investorenschutzes lassen sich nicht unter die bestehenden 4 Säulen des Rechtsstaatlichkeitsberichts subsumieren", sagt WKÖ-Expertin Ulrike Hassmann-Vorbach.
Investitionsschutzabkommen seit Achmea zahnlos
Seit dem Achmea-Fall 2018 sind Direktinvestitionen im EU-Ausland nicht mehr durch Investitionsschutzabkommen zwischen EU-Mitgliedstaaten (Intra-EU-BITs) geschützt, die im Streitfall ein Schiedsverfahren vorsehen.
Damals hatte der EuGH geurteilt, dass solche Abkommen mit dem EU-Recht auf nationale Gerichtsbarkeit unvereinbar sind. Die Folge: In manchen Fällen sind heute Investoren aus Drittstaaten, wie zum Beispiel aus China, sogar besser geschützt als solche aus einem anderen EU-Mitgliedstaat.
Gleiches Recht für alle im Binnenmarkt?
Man sollte meinen, dass gemeinsame rechtliche Standards in allen und für alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union gelten und dieses EU-Recht durch wirksame Maßnahmen auch durchgesetzt wird. Doch das ist weit gefehlt.
Viele Probleme im Bereich des Investorenschutzes lassen sich nicht unter die bestehenden 4 Säulen des Rechtsstaatlichkeitsberichts subsumieren.
Häufig können Missstände wie unvorhergesehene Regeländerungen, Diskriminierung bei Vergaben oder investitionsfeindliche Hemmnisse wie Sondersteuern, bürokratische Hindernisse oder eigentumsrechtliche Bestimmungen nicht zu einem der vier Kapitel des EU-Rechtsstaatlichkeitsberichts zugeordnet werden.
WKÖ-Forderung: Stärkere Rolle von Rechtsstaatsprinzip im Binnenmarkt
Daher fordert die Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ) als "fünfte Säule" ein eigenes Kapitel zur Binnenmarktdimension. Auch der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) empfiehlt das in einer Stellungnahme (PDF) ebenso wie das Europäische Parlament (PDF) dringend.
"Insbesondere solche Unternehmen, die in einem anderen EU-Land investieren, gehen ein besonderes Risiko ein und müssen sich auf ein Funktionieren des Rechtsstaats und eine faire rechtliche Behandlung verlassen können", sagt Ulrike Hassmann-Vorbach. Besonders für KMU ist das relevant, weil sie sich teure Rechtsstreits nicht leisten können.
Konkrete Beispiele für die Verletzung von EU-Grundrechten
Es gibt zahlreiche Fälle, in denen die unternehmerische Freiheit und das Eigentumsrecht (Art. 16 und Art. 17 der Charta der Grundrechte der EU) zugunsten von Protektionismus und nationalistischen Tendenzen verletzt werden und dies den Wettbewerb stark verzerrt.
So erhöhte Ungarn 2023 die Sondersteuer im Lebensmitteleinzelhandel für EU-ausländische Investoren von 2,7 % auf 4,1 % auf den Nettoumsatz und 2024 sogar auf 4,5 %, während ungarische Unternehmen lediglich 0,15 % bzw. 1 % oder sogar gar keine Steuern zahlen.
VIDEO: Vergebene Chance EU-Binnenmarkt?
Noch krasser diskriminiert Ungarn Bergbauunternehmen sowie Produzenten von Zement, Kalk, Gips, Ziegeln und Baukeramik. Ihnen wird eine Steuer auf Gewinnüberschüsse von 90 % auferlegt. Fast alle ungarischen Bergbauunternehmen müssen hingegen keine derartigen Steuern zahlen.
In Rumänien mussten EU-ausländische Unternehmen Preisdeckelungen für Pellets und Feuerholz hinnehmen. Rumänische Firmen verkauften dann zwar das Feuerholz und die Pellets zum gedeckelten Preis, schlugen aber mindestens 100 % für Transport, Administration und andere Positionen auf.
Rechte häufig schwer durchsetzbar
Unternehmen können selbst in EU-Mitgliedstaaten ihr Recht oft nur schwer oder gar nicht durchsetzen. "Ausländische Investoren werden oft durch zu lange Dauer von Verfahren und mangelnde Verlässlichkeit bei der Durchsetzung des Rechts diskriminiert", sagt Hassmann-Vorbach.
Das bremst das Wachstum im Binnenmarkt und gefährdet damit den Wohlstand in den Ländern der EU. Könnten sich Unternehmen auf rechtsstaatliche Strukturen im Wirtschaftsleben und rechtsstaatliches Verhalten der Behörden besser verlassen, würden Investitionen durch ihr kalkulierbares Risiko attraktiver werden und den Handel im Binnenmarkt stärken.
Es braucht konkrete Schutzmechanismen
Entsprechend der Politischen Leitlinien 2024-2029 von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wurde die "Binnenmarktdimension" zwar ab 2025 in den Rechtsstaatlichkeitsbericht aufgenommen, aber im heurigen Bericht den vier bestehenden Kapiteln zugeordnet.
AT60 – Haus der Österreichischen Wirtschaft in Brüssel
Immer mehr Entscheidungen – auch für kleine und mittlere Unternehmen – werden nicht in Österreich, sondern in Brüssel getroffen werden. Deswegen verstärkt die WKÖ ihre Präsenz vor Ort mit einem Haus der Österreichischen Wirtschaft. Die gemeinsame Präsenz der WKÖ und ihrer Partner soll für eine starke Stimme der österreichischen Wirtschaft in Brüssel sorgen.
Um Investor:innen ausreichend schützen zu können, muss zunächst die Bedeutung der Binnendimension unterstrichen werden. Neben Justizsystem, Korruptionsbekämpfung, Medienpluralismus und Gewaltenteilung soll das Thema Wirtschaft im Binnenmarkt daher zur fünften Säule des Rechtsstaatlichkeitsberichts der EU werden. Die nächste Chance dafür hat die EK 2026.
EU-Investitionskammer denkbar
Es braucht jedoch weitere, wirksame Instrumente, um Investitionen im EU-Ausland absichern zu können. Bestehende Rechtsvorschriften müssen innerhalb der Binnengrenzen konsequent umgesetzt und durchgesetzt werden.
WKÖ-Expertin Hassmann-Vorbach sagt: "Die Schaffung eines neuen, rechtsverbindlichen Schutzsystems für Investoren auf EU-Ebene – auch für KMU einfach und frei zugänglich – würde eine schnelle und rechtssichere Bearbeitung von Investorenproblemen gewährleisten. Denkbar wäre die Einrichtung einer eigenen Investitionskammer beim Gerichtshof der EU."
Das Wichtigste in Kürze:
- Die Binnenmarktdimension der Wirtschaft kommt im Rechtsstaatlichkeitsbericht 2025 zu kurz.
- Wesentlich für den Binnenmarkt ist der Schutz von Investitionen, weil Investitionsschutzabkommen seit dem Achmea-Fall nicht mehr greifen.
- Die WKÖ und der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie das Europäische Parlament fordern ein eigenes Kapitel für die Wirtschaft, um die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit für die Wirtschaft zu unterstreichen.
- Es gibt zahlreiche Fälle, in denen sich Mitgliedstaaten protektionistisch gegenüber EU-ausländischen Unternehmen verhalten – durch Diskriminierung bei Vergaben, Sondersteuern, bürokratische Hürden und eigentumsrechtliche Bestimmungen.
- Die Missstände sorgen für eine enorme Wettbewerbsverzerrung im Binnenmarkt.
- Zur Umsetzung und Durchsetzung bestehender Gesetze muss ein verbindliches Schutzsystem für Investor:innen auf EU-Ebene eingeführt werden.