Von Stahl zu Software: Europas neue Verteidigung

DefenceTech neu denken: Von Hardware zur schnellen, offenen Software-Verteidigung.


Wer diesen Beitrag lesen sollte:

  • Wissenshungrige
  • Weiterdenker:innen

Lesedauer:

5

Minuten

AutorIn: Peter Draxler

Europakarte mit roten Highlights, ki-generiert i
MozZz | stock.adobe.com

Die europäische Verteidigungsstrategie braucht Tempo – und einen Paradigmenwechsel. Heute verhindert nicht die Existenz von Panzern, Flugzeugen und Schiffen einen Konflikt, sondern Informationsvorsprung und Vernetzung.

Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ist klar: Sicherheit entscheidet sich nicht mehr über Masse an Stahl, sondern über Tempo, Vernetzung und Resilienz. Der Krieg zeigt täglich, wie Drohnen, elektronische Kampfführung und Cyberangriffe schwere Plattformen ohne starke Sensorik, Software und Luftabwehr verwundbar machen. Gleichzeitig sprengen Munitions- und Ersatzteilverbrauch alte Planungslogiken; Lieferketten sind fragil, Beschaffungen dürfen nicht mehr Jahre dauern.

Europas Verteidigungsstrategie: Warum Tempo vor Masse geht

Nicht die größte Plattform entscheidet, sondern die schnellste Verbindung von Sensor zu Wirkung, sagt DefenceTech-Investor Quirin Herz im MARI€-Interview. Damit "Software‑Defined Defence" gelingt, brauche es radikal offene Schnittstellen und eine Beschaffung, die Probleme statt Lastenhefte ausschreibt. Für Gründer:innen zähle Dual‑Use: zuerst zivil validieren und Umsatz sichern, parallel die militärische Integration aufbauen. Warum? Das erfährst du hier!

Herr Herz, welcher Irrtum über DefenceTech in Europa begegnet Ihnen am häufigsten – und was entgegnen Sie darauf?

 Herz: Der größte Irrtum besteht darin, den europäischen Verteidigungsmarkt als geschlossenen Bereich zu sehen, der ausschließlich von Primes – also großen Systemhäusern - beherrscht wird und für Startups unzugänglich ist. In Wirklichkeit hat die geopolitische Lage, insbesondere der Krieg in der Ukraine, die bestehenden Defizite Europas offengelegt. Heute geht es nicht mehr nur um langfristige Hardware-Programme, sondern um Geschwindigkeit, Daten, Software und autonome Systeme.

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Quirin Herz



EVENT-TIPP: Das neue europäische Verteidigungs­paradigma

Die Keynote von Quirin Herz am Dienstag, 2. Dezember, 10:30 bis 11:30 im kostenlosen Livestream.

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Die etablierten Unternehmen erkennen, dass sie diesen Wandel nicht allein bewältigen können. Sie bleiben Experten im Bau robuster Systeme, müssen sich jedoch zu digital getriebenen Akteuren entwickeln. Deshalb suchen sie gezielt nach Technologien wie KI, Sensorik oder sicherer Kommunikation, um ihre Systeme smarter und vernetzter zu machen. Der Markt ist also keineswegs geschlossen, er sucht aktiv nach innovativen Lösungen, die häufig von "Dual-Use"-Startups kommen.

Software-Defined Defence: Netzwerk schlägt Plattform

Sie sehen ein "neues europäisches Verteidigungsparadigma". Was ist aus Ihrer Sicht der eine entscheidende Unterschied zu früher?

Herz: Der entscheidende Unterschied ist der Wandel von der reinen Abschreckung durch Hardware zur Notwendigkeit der Einsatzfähigkeit in Echtzeit. Das alte Paradigma basierte auf der "Friedensdividende". Es ging darum, durch die Existenz von Panzern, Flugzeugen und Schiffen einen Konflikt zu verhindern. Die Systeme waren auf maximale Leistung in einem hypothetischen Szenario ausgelegt.

Das neue Paradigma ist von der Realität eines hochintensiven Krieges in Europa geprägt. Wir sehen täglich, dass Konflikte nicht mehr von der Plattform mit der dicksten Panzerung gewonnen werden, sondern von dem Akteur mit der schnellsten "Sensor-to-Shooter-Loop". Es geht um Informationsüberlegenheit. Es geht darum, ob Ihr Aufklärungs-Asset (z. B. eine Drohne) seine Daten in Sekunden oder in Stunden an das Effekt-System (z. B. Artillerie) übermitteln kann. Früher zählte die Plattform, heute zählt das Netzwerk. Und dieses Netzwerk wird durch Software definiert.

VIDEO: Russland provoziert, die USA destabilisieren: Muss Europa aufrüsten?


Welche Fähigkeiten sollte Europa kurzfristig priorisieren, damit "Software-Defined Defence" nicht an Integrationsaufwand scheitert?

Herz: Die eine, absolut kritische Fähigkeit ist nicht einmal eine Technologie, sondern ein Standard: Radikal offene Systemarchitekturen. Wir können als Investoren in die besten KI-Algorithmen oder Sensor-Fusion-Startups der Welt investieren, wenn diese Startups 90% ihres Kapitals dafür aufwenden müssen, ihre Lösung in 20 verschiedene, proprietäre "Black Box"-Systeme aus den 90er Jahren zu integrieren, scheitern sie.

Offene Standards: NATO-fähige APIs als Schlüssel zur Integration 

Europa muss die Beschaffung zwingend an offene Standards koppeln. Wir brauchen eine Art "NATO-Standard-API" (Anmerkung: Unter API versteht man eine (Software-)Schnittstelle, die es erlaubt, dass verschiedene Anwendungen miteinander kommunizieren können) für militärische Systeme. Nur wenn die etablierten Primes ihre Systeme öffnen (müssen), können innovative Startups (die "Apps") ihre Lösungen schnell und kosteneffizient andocken. Ohne diese Interoperabilität "by design" verbrennen wir Innovationskapital im Integrationssumpf.

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Outcome-Beschaffung: Probleme statt 1.000-Seiten-Lastenhefte

Wenn Sie am europäischen Beschaffungsprozess nur eine Sache ändern dürften, um Innovation zu beschleunigen – welche wäre das und weshalb?

Herz: Ich würde den Fokus der Beschaffung von der detaillierten Anforderungsdefinition (Requirements-Based) zur ergebnisoffenen Problemstellung (Outcome-Based) verlagern. Heute schreibt ein Beschaffungsamt ein 1.000-seitiges Lastenheft, das exakt definiert, wie ein System auszusehen hat (z. B. "muss 10 Tonnen wiegen und grün sein"). Darauf können sich fast nur die Primes bewerben, die genau das seit 20 Jahren bauen. Stattdessen sollte die Ausschreibung lauten: "Wir haben das Problem, dass feindliche Drohnenschwärme unsere Konvois bedrohen. Wir haben X Millionen Euro Budget für Prototypen. Überrascht uns."

Was wäre der Vorteil dieser Vorgehensweise?

Herz: Weil dieser Ansatz die Tür für asymmetrische Lösungen öffnet. Vielleicht gewinnt nicht der Rüstungskonzern mit einer neuen Kanone, sondern ein Startup für Hochfrequenztechnik oder eine KI-Firma, die ursprünglich aus dem Gaming-Sektor kommt. Dieser "Outcome-Based"-Ansatz (in den USA oft über "Other Transaction Authorities" (OTAs) gelöst) belohnt Innovation und Geschwindigkeit statt der Fähigkeit, Lastenhefte zu erfüllen.

Dual-Use-Startups: Zuerst zivil validieren, dann militärisch skalieren

Wenn Sie morgen selbst ein Defence/Deep-Tech-Startup gründen müssten: Mit welchem ersten Schritt würden Sie beginnen?

Herz: Mein erster Schritt wäre nicht die Entwicklung, nicht das Fundraising und auch nicht das Pitch-Deck. Mein erster Schritt wäre die Validierung des "Dual-Use-Problems" bei einem zivilen und einem militärischen Endnutzer.

Warum das?

Herz: Weil 9 von 10 Defence-Startups im "Tal des Todes" sterben. Sie haben eine brillante Technologie, vielleicht sogar einen militärischen Prototypen-Vertrag, aber der Übergang zur skalierten Beschaffung (Program of Record) dauert 5 bis 10 Jahre. Sie können als Startup keine 10 Jahre ohne nennenswerten Umsatz überleben. Deshalb würde ich, bevor ich eine Zeile Code schreibe, mit einem Soldaten im Feld und mit einem zivilen Anwender (z. B. einem Betreiber kritischer Infrastruktur oder einem Logistiker) sprechen. Ich würde ein Problem suchen, das beide haben.

Ich würde das Produkt dann zuerst für den zivilen Markt entwickeln. Dieser Markt ist schneller, weniger reguliert und zahlt meine Rechnungen. Mit diesem Umsatz finanziere ich mein Team und die Weiterentwicklung, während ich parallel den langen, mühsamen Weg der militärischen Zertifizierung und Integration gehe. Der zivile Markt sichert mein Überleben, der Defence-Markt sichert meinen strategischen Wert.

Das Wichtigste in Kürze:

  • Informationsvorsprung: Wer Daten in Sekunden zur Wirkung bringt, gewinnt.
  • Primes & Startups: Primes öffnen sich stärker für Startup‑Tech (KI, Sensorik, sichere Kommunikation) und suchen Kooperationen für vernetzte Systeme.
  • Offene Systeme: Standardisierte Architekturen sind die kritische Fähigkeit – sonst scheitert Integration.
  • Outcome‑Beschaffung: Beschaffung nach Ergebnissen beschleunigt Innovation und erweitert den Bieterkreis über klassische Primes hinaus.
  • Dual‑Use zuerst: Zuerst zivil skalieren; Umsatz finanziert das Team, während die militärische Zertifizierung läuft.